Psychol., Erz., Unterr., 32. Jg., S. 47-52 (1985) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel

Praxis der Schul- und Erziehungsberatung School Guidance and Counseling____

Probleme bei Fallgesprächen in pädagogischen, rehabilitativen und psychiatrischen Einrichtungen

Rüdiger Kolb

 

Problems of Case-related Discussions in Educational, Rehabilitative and Psychiatrie Institutions


Fallgespräche erfüllen wichtige Entlastungs­funktionen in pädagogischen Einrichtungen, die bei kooperativen Systemregeln in Problem­löseprozesse übergeleitet werden können. Be­einflußt werden die Gespräche von Schuldzu-schreibungsprozeduren und Konkurrenz der Subsysteme mit dem Ziel der Homöostase. Explizit wird diese Tendenz in verschiedenen Kommunikationsstörungen, wie ungenügen­der Problemanalyse, symmetrischer Eskala­tion , Beziehungsstörungen, Selbstoffenba­rungsangst, negativen Interpunktionen und analogen Interpretationsfehlern.

1. Das Fallgespräch aus systemtheoreti­scher Sicht

Ein wichtiges Element pädagogischer und re-habilitativer Arbeit ist das Besprechen und Reflektieren über Probleme im Zusammen­hang mit pädagogischen Methoden oder dem pädagogischen Verhältnis. Dabei wird oft der Zögling, Schüler, Auszubildende, Klient zum Thema des Gespräches, dem Fallgespräch. Ein besonderes Kennzeichen des Fallgespräches in pädagogischen Einrichtungen ist das Zusam­menkommen, d.h. die Transaktion verschiede­ner Mitarbeiter bzw. Berufsgruppen. Je nach Größe der Einrichtung kommen diese aus verschiedenen Subsystemen, wie Schule, Heim und Internat, Ausbildungsbereich, den beglei­tenden Diensten (Sozialamt, ärztlicher und/ oder psychologischer Dienst). Die Mitarbeiter


bringen unterschiedliche Lebenserfahrungen und Berufssozialisationen mit. Zunächst muß man annehmen, daß das Zusam­menführen verschiedener Sichtweisen und Standpunkte in Fallgesprächen fruchtbar für einen kreativen Problemlösungsprozeß im Sin­ne des zur Sprache stehenden Falles genutzt werden kann. Das Zusammenführen impliziert aber auch Korrekturen und Veränderungen in den Sichtweisen und Standpunkten der einzel­nen Mitarbeiter und Subsysteme. Es ist außerdem möglich, daß die Mitarbeiter einen unterschiedlichen hierarchischen Status haben und damit unterschiedlichen Subsyste­men angehören. Auch in den ranggleichen Gruppen gibt es unterschiedliche Positionen, Grüppchen und Einzelpersonen, d.h. Subsy­steme. Ein Schulpsychologe hat beispielsweise ein Gespräch mit einer Lehrerkonferenz (Klas­senkonferenz) über einen schwierigen Schüler. An dem Gespräch nimmt der Rektor als hierar­chisch übergeordnetes Subsystem teil. Es gibt verschiedene rivalisierende Lehrergruppen und „Einzelkämpfer", die wir als unterschiedli­che Subsysteme in dem Gespräch ansehen können, und die mit ihren Transaktionen die Struktur des Gespräches bilden. In einem Fall­gespräch, in dem noch andere Berufsgruppen (beispielsweise Erzieher, Sozialarbeiter, Arzt, Ausbilder) teilnehmen, wird die Struktur oft noch komplizierter.

Auch der einzelne Mitarbeiter als Subsystem oder Teil des Systems muß in der Ganzheit und


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Übersummation des Systems gesehen werden, d.h. ein System besteht nicht nur aus der Summe seiner Einzelteile. Die Einzelperson reagiert auf Belastungen und Veränderungen des Systems und kann zur Belastung anderer Mitglieder des Systems beitragen. Der Mensch ist nicht er selbst ohne seine Umstände (Minu-chin 1983), d. h. sein seelisch-geistiges Leben ist nicht ausschließlich ein interner Vorgang, son­dern wird von den Merkmalen des Systems gesteuert, so wie seine Handlungen entspre­chend dem System wirken. In den Gesprächen entstehen Situationen der Unsicherheit und Desinformation, die durch gesellschaftlich tradierte Metatransaktionen wieder in für alle Mitarbeiter sichere Situatio­nen gewandelt werden. Durch diese traditio­nellen Transaktionsmuster und den damit ver­bundenen Regeln werden aber meist innovative und neue Ansätze allmählich unterdrückt, wenn nicht die Ansätze explizit aus der hierar­chischen Ordnung gestützt und gefördert wer­den. Der in neugegründeten Institutionen nur scheinbar regelfreie Raum wird relativ schnell zum Ritual dieser traditionellen Transaktions­muster, die im Sinne der oberen gesellschaftli­chen Ordnung (z.B. Leistungsgesellschaft) liegen.

Dabei wirken grundsätzlich folgende Kontroll­mechanismen (nach Scheften 1976): Mobilitäts­kontrolle, Gedankenkontrolle und „Kontrolle durch Schuldzuschreibung".

2. Die Rigidität von Fallgesprächen im Hin­blick auf Veränderungen

Geht man von der systemtheoretischen Prämis­se aus, daß sich jedes System gerade so viel verändern will, daß es ihm eben möglich ist, sich nicht zu verändern, beginnt damit die erste grundlegende Schwierigkeit (Bachmair et al. 1983).

1. Fallgespräche haben die Tendenz, daß der sogenannte schwierige Fall als alleiniges Pro­blem definiert wird. Der „schwierige Fall" wird an ein Subsystem (z.B. Psychologen) delegiert, das die Aufgabe hat, den Fall in Ordnung zu bringen, damit er wieder in den Normalprozeß integriert werden kann. Eine


Reflektion des eigenen pädagogischen Ver­hältnisses zum Fall und der pädagogischen Methoden wird so ausgeblendet.

2. Ist eine Delegation und damit verbundene Integration des Falles nicht ohne weiteres möglich, folgt eine zweite Gefahr, die durch die systemtheoretische Prämisse ebenfalls bedingt ist. Durch Schuldzuschreibungspro-zeduren werden der Fall oder Mitarbeiter in den Subsystemen zu Sündenböcken ernannt. Auch damit wird ein gemeinsamer Problem­lösungsprozeß verhindert, der Mobilität und Flexibilität der betroffenen Subsysteme erfordern würde.

3. Die systemtheoretische Prämisse fördert außerdem die Tendenz, sich in Fallgesprä­chen die Bestätigung des eigenen Standpunk­tes zu holen, d.h. Unsicherheit und kogniti­ve Dissonanzen zu verringern und eventuell notwendige Veränderungen zu verhindern.

Fallgespräche dienen also - aus System theoreti­scher Sicht - zunächst nicht per se Problemlöse­prozessen, sondern haben eher Entlastungs­funktion und systemstabilisierende Funktion, die bei rigidem und automatisierten Gebrauch offene Systeme in geschlossene Systeme ver­wandeln können.

Hinzukommt, daß Subsysteme nicht automa­tisch miteinander kooperieren, sondern eher konkurrieren. Die Vorteile der Konkurrenz bestehen darin, daß man das System abschotten kann und damit die systemtheoretische Prämis­se mit den genannten Folgen erfüllt. Außerdem wird das Subsystem, das im Konkurrenzkampf gut abschneidet, von oben gelobt und damit auch homöostatisch bestätigt. Wegen dieser Dynamik wird oft von übergeordneten Syste­men die Konkurrenz zur Machterhaltung ge­nutzt. Dieser Vorgang stößt dort an die Gren­zen, wo kooperative Prozesse zur Produktivi­tätssteigerung notwendig werden. Für pädago­gische und rehabilitative Prozesse sind koope­rative Konzepte günstig, da sonst ein „Erziehen und Bilden" gegeneinander entstehen kann. Da es nicht um Produkte und deren Bestehen auf dem Markt in pädagogischen Einrichtun­gen geht, wird hier nicht über das Produkt, sondern direkt um soziales Prestige und Anerkennung gerungen. Gerade das macht Mitar­beiter im sozialen Bereich äußerst sensibel für Selbstwertprozesse. Oft ist am Ende eine Ein­richtung nicht mehr behindertengerecht, son­dern dient vor allem der Aufwertung und dem Prestige einiger Mitarbeiter, während andere sich resigniert zurückziehen und Anerkennung außerhalb der Einrichtung suchen. Für große Einrichtungen, wie Berufsbildungs­werke oder Erziehungsanstalten, heißt das, daß eine gute Kooperation in der Leitungsgrup­pe, im Leitungskollegium, Vorstand etc., und die gegenseitige Anerkennung der Leistungen in den einzelnen Subsystemen mitentscheiden, ob den Subsystemen eine Zusammenarbeit (z. B. in Fallgesprächen) möglich wird oder ob um die Anerkennung bei den jeweiligen Vorge­setzten auf Kosten der anderen Subsysteme konkurriert werden muß. Diese Prozesse wer­den selten bewußt erlebt, sondern unterliegen gewöhnlich kommunikativen und gruppendy­namischen Regeln. Die in der Natur des Men­schen liegenden Positions- und Territorial­kämpfe werden herausgefordert statt kulti­viert. Seinen Nährboden erhält das Konkur­renzverhalten vor allem aus den unterschied­lichsten Sichtweisen und Standpunkten der Berufssozialisation und anderer Lebenserfah­rungen, die die Mitarbeiter in Fallgesprächen mitbringen. Unsicherheit bei der Kompetenz­anerkennung und -abgrenzung erhöhen in gro­ßen Institutionen die falsche Bewertung (Inter­punktion) von Informationen und Handlungen aus anderen Subsystemen. Die falschen Inter­pretationen fördern wiederum die Konkur­renzkämpfe.

Diese sowohl in der Sache als auch in den Beziehungen genannten Umstände erschwe­ren es zunächst überhaupt, eine gemeinsame Sichtweise und Problemdefinition in Fallge­sprächen zu finden. Das gemeinsame Ver­ständnis des Problems ist aber grundlegende Voraussetzung für den Problemlösungsprozeß. Das erfordert zunächst Zuhören und Verste­hen und nicht Bewerten der unterschiedlichen Standpunkte der einzelnen Subsysteme und Mitarbeiter.


3. Einzelne Problemaspekte

Welche Schwierigkeiten müssen wir also im Fallgespräch als Problemlöseprozeß en detail beachten?

3.1 Problemanalyse

Oft liegt die Lösung eines Problems in der gründlichen Definition und Analyse des Pro­blems selbst. Mitunter haben wir sehr vage oder sehr einseitige Vorstellungen von dem Pro­blem ; oder jeder glaubt, das Problem aus seiner Sicht erfaßt zu haben. Unter Zeitdruck neigen wir dann schnell dazu, Lösungen zu fordern oder vorzuschlagen, bevor eine eigentliche Problemanalyse bearbeitet ist. Der Vorteil schneller Lösungsvorschläge liegt darin, daß wir das Problem auf andere Subsy­steme abwälzen können und es los sind. Mit den Lösungsvorschlägen wird den betroffenen Sub­systemen eventuell auch im Sinne der Konkur­renz Versagen nachgewiesen und damit die eigene Kompetenz aufgewertet. Dabei fühlt sich das Subsystem, dem der Vorschlag ge­macht wird, nicht verstanden und wehrt den Vorschlag ab.

Auch kann ein schneller Lösungsvorschlag dem betroffenen Subsystem helfen, notwendige Veränderungen in der Sichtweise des Problems und dem pädagogischen Vorgehen zu verdrän­gen. Das Fallgespräch endet hier gewöhnlich in gegenseitiger Bestätigung und Definition „des Falles" zum „Indexpatienten". Distanzierung zum Sündenbock, technologi­sche Lösungen, psychosoziale Abwehr mit Pro­jektionen, Verdrängungen und Identifikation sind meist Folge der ersten Phase im Fallge­spräch, die vielleicht verhindert worden wäre, wenn wir um eine offene Problemsicht gerun­gen hätten.

Es gilt also in der ersten Phase des Fallgesprä­ches eine echte, gemeinsame und vielfältige Problemanalyse zugleich durchzuhalten und nicht verfrüht abzubrechen. Meist sind dann Lösungen parat oder schneller zu finden; ja, in der Problemanalyse sind implizit die Lösungen enthalten.


 

 


3.2 Symmetrische Eskalation

(keine Kompetenzanerkennung)

Der Glaube, daß jeder die gleiche Sichtweise vom Problem hat, führt in Fallgesprächen unter dem Konkurrenzaspekt oft zu symmetrischen Eskalationen. Statt den Standpunkt des ande­ren zunächst anzuerkennen, wird darum gerun­gen, das letzte Wort zu haben. Damit werden die Anerkennung der spezifischen beruflichen und fachlichen Kompetenz der Gesprächspart­ner verhindert und eigene Kompetenzgrenzen mißachtet.

Unter dem Aspekt der Kooperation wird man die nicht immer zu vermeidenden Grenzüber­schreitungen eher akzeptieren und eine Eskala­tion vermeiden könnten.

3.3 Der Beziehungsaspekt von Informationen

Kommunikationen enthalten neben dem Sach­aspekt immer auch Beziehungsaspekte, die sich beispielsweise in der Frage ausdrücken (Watz-lawick 1969): „Wie redet der eigentlich mit mir?"

Diese Beziehungsseite der Kommunikation er­hält vor allem unter dem Aspekt der Konkur­renz, also bei gespanntem Verhältnis der Ge­sprächspartner, Gewicht. Viele Aussagen wer­den dann als Herabsetzung und Bevormun­dung interpretiert.

Die Angst vor Kritik ist verständlich, wenn man bedenkt, daß wir Kritik von Eltern meist in irreversibler Weise erhalten haben. Die Un­möglichkeit, darauf direkt reagieren zu kön­nen, hat also unser Selbstwertgefühl angegrif­fen und zur Überempfindlichkeit geführt. Ge­nau diese einseitige Abhängigkeit fördert in hierarchischen Beziehungen die Angst vor Kri­tik und Beziehungserklärung auf metakommu-nikativer Ebene.

So werden also in Fallgesprächen Kommunika­tionsstörungen selten auf Seiten des Bezie­hungsaspektes, sondern meist als Streit über den Sachinhalt ausgetragen.

3.4 Selbstoffenbarungsangst

In vielen Fallgesprächen ist auffällig, daß Mit­arbeiter, die mit dem Klienten direkt zusam-


menarbeiten, ihre Vorgesetzten argumentie­ren lassen. Diese Mitarbeiter stehen in den Gesprächen also nicht nur unter der Kontrolle des versammelten Gremiums, sondern auch des direkten Vorgesetzten. Ihr Verstummen ist oft Ausdruck des Konkurrenzkampfes der Sub­systeme untereinander. Die Schwierigkeit, un­ter diesen Umständen pädagogische Maßnah­men und das pädagogische Verhältnis zu reflek­tieren, ist einfühlbar, wenn man bedenkt, daß jede Aussage auch Selbstoffenbarung enthält, d.h. der Empfänger erfährt etwas über den Sender (Fittkau et al. 1977). Fallgespräche sind so für viele Mitarbeiter auch sehr affektbe­laden.

Minderwertigkeitsgefühle sensibilisieren in der Art, daß die anderen beispielsweise als strenge Richter gesehen werden oder die Fallge­sprächssituation leistungsthematisch als eine Art Prüfung gesehen wird. Mit Fassadentechni­ken, z. B. Schweigen, versucht man, sich keine Blöße zu geben. Man macht gute Miene zum bösen Spiel oder verfällt in Imponiergehabe. Durch Nicht-Anerkennung der fachlichen Kompetenz des anderen wird auch Imponier­gehabe des Senders herausgefordert, der dann seinen Informationen über Autorität mehr Nachdruck und Glaubwürdigkeit zu verleihen sucht.

Die Reflektion und Diskussion über pädagogi­sche Maßnahmen und das pädagogische Ver­hältnis verlangen neben dem Mut zur Selbstof­fenbarung auch das Vermögen und die Qualifi­kation zu metakommunikativen Betrachtungs­weisen. Die erforderlichen Qualifikationen können dabei nur in einem vertrauensvollen Rahmen gefördert und entwickelt werden, nicht in einem konkurrierenden Kontext. Das Unvermögen, die ablaufenden Prozesse zu überblicken, und die Tatsache, daß Bezie­hungskonflikte über Sachdiskussionen an fal­scher Stelle ausgetragen werden, fördern dann die Gefahr, daß der sachliche Ertrag in den Fallgesprächen geringer wird. Aus Angst, den eigenen Standpunkt offenzulegen, geht vieles verloren.

Man ist vielleicht mit einer Selbstdarstellung beschäftigt, während der andere nicht zuhört, um seinen eigenen Auftritt vorzubereiten. Es wachsen innere Spannung, Angst vor Entlar­vung, Verdrängung des eigenen Erlebens mit dem größeren Risiko zur körperlichen Erkran­kung als Folge dieser Verdrängungsprozesse.

3.5 Abwälzen von Verantwortung durch Inter­punktion

Eine weitere Störung manifestiert sich, wenn wir in Fallgesprächen andere für unser Verhal­ten verantwortlich machen. Diese Interpunk­tion verselbständigt sich insoweit, daß nur noch auf den anderen Gesprächspartner reagiert wird und sich niemand mehr verantwortlich fühlt. (Kooperation bedingt aber, die Einsicht, daß alle für den Kommunikationsprozeß mit­verantwortlich sind und Schuldzuschreibungen keine echten Lösungen ermöglichen).

Es werden Rabattmarken gesammelt, die dann, wenn das Maß voll ist, präsentiert werden. Man versucht aus dem Spiel, dem anderen Schuld und Fehler aufzurechnen, eigenen Gewinn zu ziehen. Doch der eigentliche Gewinn besteht meist in einem schlechten Gefühl (Harris 1975).

Eine andere Interpunktion zeigt sich, wenn eine bestimmte Einstellung gegenüber einem Mitarbeiter (oder Fall) zu dem Glauben führt, daß sich der Mitarbeiter (oder Fall) in Zukunft einstellungsgemäß verhalten wird. Es kommt zu einer Sich-selbst-erfüllenden-Prophezei-ung. Selbst, wenn sich der Mitarbeiter (oder Fall) nicht wie erwartet verhält, wird dessen Verhalten so interpretiert oder so lange nach dem „faulen Ei" gesucht, bis die entstandene kognitive Dissonanz reduziert ist.

3.6 Die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, mit analoger Kommunikation „Nicht-Konkur­renz" auszudrücken

Wenn wir miteinander reden, benutzen wir Sprache, d. h. digitale Mittel, und Körperspra­che, d.h. analoge Mittel (Watzlawick 1969). Mit meinem Körper kann ich eindeutig aus­drücken, wenn ich auf einen Baum steigen will, indem ich auf den Baum zugehe und hinaufzu­steigen beginne. Welche eindeutigen Möglich­keiten habe ich auszudrücken, nicht auf den Baum steigen zu wollen?


Wenn ich vom Baum fernbleibe, heißt das noch lange nicht, daß ich nicht darauf steigen möch­te. Mein Verhalten könnte sogar so ausgelegt werden, daß ich versuche, den anderen zu täuschen, um bei passender Gelegenheit den Baum alleine zu erobern. Logik und Vertrauen passen also schlecht zusammen. Um klarzumachen, daß ich im Fallgespräch nicht konkurrieren will, bleibt mir die digitale Sprache, die aber weitaus weniger über meine Glaubwürdigkeit aussagt als meine analogen Mittel, d. h. „der kann viel reden, aber ob er das wirklich so meint?" Die Interpretation meines Verhaltens hängt somit von dem Vertrauen des Empfängers bzw. dem gesamten Arbeitsklima ab. Auch hier wird klar, in welchem Dilemma wir stecken, wenn wir den Kontext der Konkur­renz nicht ausschalten können.

4. Fazit

Was machen wir also mit den Fallgesprächen, die in der dialektischen Spannung zwischen leistungsthematischer Konkurrenz und an­schlußthematischer Kooperation, zwischen Homöostase und Entwicklung stehen? Ist nicht die Gefahr von „Brüderie" und Gruppenegois­mus bei Kooperation gegeben? Kann man nicht auch bei einem kooperativen Klima konkur­rieren?

In den Phasen eines offenen Gruppenprozesses folgen nach einer Orientierungsphase Posi-tionskämpfe und Kontrollen. Danach erwartet man gewöhnlich eine Phase der Vertrautheit und Intimität, die in eine Differenzierungspha­se mit Ausschöpfung der vorhandenen indivi­duellen Kapazitäten für die Gruppe überleitet, bevor sich die Gruppe trennt und auflöst. Wann sind pädagogische Einrichtungen noch in der Phase des Positionskampfes? Wann fließen schon die differenzierten Möglichkeiten der Subsysteme kooperativ zusammen? Es sind oft viele Phasen und Rückfälle gleichzeitig beob­achtbar. Dennoch bedingt sinnvolle Erzie-hungs-, Ausbildungs- und Rehabilitationsar­beit kooperatives Zusammenwirken, um das immer gerungen werden muß, wenn die Ko­sten-Nutzen-Relation für die zu Erziehenden, die Mitarbeiter und die Gesellschaft aufgehen soll.


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Der Wille zur offenen Kooperation der Mitar­beiter untereinander entscheidet auch über das pädagogische Verhältnis miteinander zu den Erziehenden selbst, da Gruppenegoismus in den Subsystemen der Mitarbeiter letzten Endes die Erziehenden isoliert. Kongruentes, echtes Verhalten verlangt eine vertrauenschaffende Atmosphäre, in der Imponiergehabe und Angstabwehrversagen abgebaut und mehr Of­fenheit erreicht werden können. Der entscheidende erste Schritt liegt darin, einen Zugang zu allen Mitarbeitern zu schaf­fen, bevor irgendwelche Änderungen ange­strebt werden, „denn eine erfolgreiche Neu-strukturierung erfordert häufig, daß die Struk­turen, die letzten Endes angegriffen werden sollen, zunächst einmal gestützt werden" (Mi-nuchin 1983). In der Familientherapie be­schreibt Minuchin für den Therapeuten zwei


Aufgaben, die unserer Meinung nach auch für das Fallgespräch gelten: „Der Therapeut muß sich der Familie anpassen, aber er muß auch seine führende Position innerhalb der therapeutischen Einheit halten. Er darf dem Sog des Familiensystems nicht zu stark nachgeben. Er muß sich so weit der Familienorganisation anpassen, daß er in der Lage ist, in sie einzutreten, und gleichzeitig die Freiheit behalten, Interventionen vorzunehmen, die die Familienorganisation herausfordern und ihre Mitglieder zwingen, sich ihrerseits so an ihn anzupas­sen, daß die Bewegung auf das therapeutische Ziel hin erleichtert wird."

Techniken des gemeinsamen Problemlosem mit gemeinsamer Problemanalyse, mit zu­nächst nicht wertender Suche nach Lösungsal­ternativen und der Entscheidung für eine Alter­native können dabei wichtige Hilfen sein, aber die grundlegende Beziehungsproblematik nicht lösen. Es bedarf vielmehr dazu kooperati­ver, flexibler Systemregeln auf allen Ebenen.


Literatur

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