Zerstöre uns unsere Kreise nicht!

In: TH. Fleischer, M. Greuer-Werner , H. Heyse (Hrsg): Schule im Spannungsfeld von Beratung. Deutscher Psychologen Verlag. Bonn 1991


 


 

Rüdiger Kolb

 

Zerstöre unsere Kreise nicht! Überlebensstrategien für Berater in Institutionen

Zusammenfassung

Berater versuchen oft mit hohem ideellen Einsatz und Helferbedürjnis, Veränderungen in Institutionen und Organisationen, wie Schule und Familien anzuregen. Dabei ma­chen Sie manchmal die Erfahrung, dass sie trotz guten Willens eher abgelehnt werden und sich nichts bewegt. Warum? Gibt es Gründe zu resignieren oder Strategien weiter­zumachen? Vor dem Hintergrund systemtheoretischer und struktureller Beratungsan­sätze werden hier eigene Beratererfahrungen reflektiert und daraus Strategieregeln entwickelt, die helfen können, nicht den verführerischen Angeboten und Intrigen zu er­liegen und Opfer seines eigenen Handelns zu werden. Wir gehen davon aus, dass Syste­me ein Gleichgewicht halten, in Übergangszeiten und Krisen dieses reorganisieren oder die Regel haben, dass sich nichts verändern darf. Sie kontrollieren, dass die geltenden Transaktionsregeln eingehalten werden. Will der Berater vom System weder abgelehnt noch geschluckt werden, muss er einen bestimmten Zugang finden und selbst die Rolle des "Sündenbocksuchers" vermeiden. Der Berater kann sich bewußt machen, dass er nur "Macht" über sein eigenes Verhalten hat. Diese eigene "Macht" ist aber aus sy­stemtheoretischer Sicht ambivalent zu sehen, d. h. je nach Struktur und Management des Systems oft im Ergebnis einflusslos..

Schnell sind wir als Berater in Gefahr, Territorialgrenzen zu überschreiten und Territorial-verhalten zu mißachten. Aber lautet nicht gerade unser Auftrag zu Grenzüberschreitungen? Werden wir nicht auf fremden Territorium zu Hilfe gerufen? Es würde hier zu weit fuhren, die Prozesse der territorialen Auseinandersetzungen mikroorganismisch zu beleuchten, wie das u. a. sehr präzise von SHEFLEN (1976) gemacht wurde. Wahrscheinlich ist es wich­tig, dass wir als Berater weniger wortgläubig werden und mehr auf die nonverbalen und or­ganisatorischen Transaktionen achten, da hiermit Macht- und Einflußprozesse ausgetra­gen werden. Bevor wir über Beratungsstrategien im sozialen Kontext sprechen, möchte ich mich darüber verständigen, dass Systeme ihre Territorien mehr oder weniger subtil ver­teidigen und ihre Subsysteme zusammenhalten, um zu funktionieren. Für bestimmte le­bensnotwendige Anpassungsprozesse wie Energiezu- und -abfuhren öffnen sich Systeme. Sie tun dies auch, wenn sie sich weiterentwickeln müssen, um zu überleben. Nach dieser Theorie sind Menschen Mitglieder einer fortlaufenden Gruppe, die nach dem Prinzip der Homöostase aufeinander reagieren und in Beziehung stehen. Diese Systeme reagieren auf versuchte Veränderungen selbstregulierend.

Während organisch-medizinische Beratungstheorien Störungen vor allem auf einen körper­lichen Defekt zurückfuhren, sehen psychodynamische Theorien die Störung in vergangenen

Entwicklungen. Die Systemtheorie ist eine Theorie, die sich mit der Gegenwart einer Stö­rung auseinandersetzt. Bekanntlich kann man ja nur Gegenwärtiges verändern Aber sie freuen sich zu früh, wenn Sie denken, dass die Systemtheorie eine Theorie der Veränderun­gen ist. Sie ist eher eine Theorie der Stabilität, interessant für Philosophen, die sich mit dem freien Willen befassen. Für uns Berater stellt sich eher die Aufgabe, wie wir innerhalb einer Theorie, nach der Menschen nichts an ihrem Handeln ändern können, diesen vorschlagen, etwas zu ändern. Die systemische Familientherapie hat sich zu einer strukturellen Thera­pie entwickelt (HALAY1981).

Ausgehend von meiner Erfahrung als abhängiger Berater in einer Rehabilitations- und Bil­dungsinstitution möchte ich die Schwierigkeiten beschreiben, in ein System zu kommen und sich darin zu behaupten. Daraus leite ich u, a. vor dem Hintergrund der Mailänder Gruppe um SELVINI-PALAZZOLI bestimmte Regeln für das Beraten in Systemen ab.

l.     Systeme versuchen ein Gleichgewicht  zu halten

Dass Systeme eng zusammenhalten und sogar ihre eigene Sprache entwickeln können, er­fuhr ich schnell als junger Berater. Vollgestopft mit humanistischen Bildungsidealen trat ich engagiert meine Arbeitsstelle an, bereit, allen zu helfen, aber mit dem Hintergedanken, dass alles anders und besser werden sollte. Bald bekam ich zu spüren, dass ich noch sehr grün und unerfahren auf dem Territorium meiner Arbeitsstätte war. So ging ich recht unbe­kümmert und offen in meine erste Gesprächsrunde mit Erziehern, denn was konnte mir mit meiner universalen sprich universitären Kompetenz schon passieren? Entsprechend unvorbereitet traf mich der erste Angriff einer routinierten Erzieherin, die nicht bereit war, sich zu meiner Einflußnahme erdrücken zu lassen oder etwas von ihrer Macht herzugeben: "Psychologen? Für was brauchen wir eigentlich die Psychologen?

Diese in Frageform gekleidete Aussage saß in ihrer Unterschwelligkeit und in ihrem Ton wie ein Schlag unter der Gürtellinie. Hier spürte ich auch das dumpfe Gefühl und war in meiner naiven Offenheit wie gelähmt sowie nicht flexibel genug, diesen Frontalangriff hu­morvoll ins Leere laufen zu lassen Arrogant aber eigentlich hilflos auf meine Kompetenz pochend, versuchte ich mich zu schützen. Wie sollte ich das Spiel, das schon seit Gründung dieser Institution im Gange war, analysieren? Mit welchen Zügen sollte ich reagieren? War­um reagierten die Kollegen auf meine Angebote so abweisend? Was hatte ich falsch ge­macht, fragte ich mich individualistisch. Aus der Aussage der Erzieherin wird klar, dass

a) zumindest für diese Erzieherin meine Aufgabe in dieser Institution weder definiert noch meine Tätigkeit in der hierarchischen Organisation (Kooperationsform) eingeordnet

b) meine Anwesenheit nicht sonderlich erwünscht, vielleicht furchtauslösend war oder als Einmischung in Folge von a) verstanden wurde.


Nach dem Organigramm dieser Institution stehen wir als beratende Dienste auf derselben hierarchischen Ebene wie die pädagogischen Mitarbeiter, aber in einem anderen Bereich mit anderem pekuniärem Verdienst, der uns eher dem Stab zuordnet. Ich werde später noch darauf eingehen, dass bei dieser unklaren strukturellen Lage auf gleicher hierarchi­scher Ebene der Berater nicht von einer direkten Einflußmöglichkeit auf das System ausge­hen darf, wenn ihm dies das System vielleicht auch vorspiegelt. Insgesamt war die Institu­tion zum Zeitpunkt meines Eintritts in einem Übergang von der Pionier- zur Differenzie­rungsphase, d. h., verbal hing in den Räumen noch ein "Hauch von Freiheit, Offenheit und Kreativität", während schon lange Konkurrenzkämpfe die Mitarbeiterbereiche trennten und ein erster "Verwaltungsmief' zur Machtstabilisierung bestimmter Stellungen dienen sollte. Seit Gründung der Institution war innerhalb des Sozial- und psychologischen Dien­stes sowie der Leitung ein Gerangel über die Aufgaben der Psychologie im Gange, das oft intrigant in andere Bereiche getragen wurde. Wie sollte also bei einem solchen instabilen Kontext eine funktionale Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und den psychologi­schen Beratern zustande kommen? War ich Berater, Helfer oder vielleicht der Spion des Chefs? Die Erzieherin verwarf mein Beratungsangebot. Um mit SELVINI-PALAZZOLI u. a. (1978) zu sprechen:

"Bei allen, die sich in der Schule an den Psychologen wenden, läßt sich eine Gemeinsamkeit feststellen: Jeder lehnt für seine Person die Definition des Klienten oder des Nutznießers der psychologischen Intervention ab. Wer den Psychologen um sein Eingreifen bittet, tut dies niemals etwa für sich selbst; die problematische Situation, deren sich der Psychologe annehmen soll, liegt nicht nur außerhalb der Person des Antragstellers, sondern sogar außerhalb seiner persönlichen Beziehungen innerhalb der Schule... Auf die­se Weise bringt der, der einen Fall vorträgt, für sich selbst die Definition des "Diagnostikers" (mit ist klar, wo die Störung liegt) zugleich aber auch die des "machtlosen Therapeuten" (ich.weiß nicht, was ich tun soll) ins Spiel und weist dem Psychologen die Rolle des "allmächtigen Magiers" zu, der die notwendigen theoretischen und praktischen Kenntnisse besitzt, um den Fall zu lösen. Mehr noch, indem er die vom Psychologen angebotene Definition des Klienten für sich selbst kategorisch zurückweist, stellt er sich auf eine Stufe mit dem Psychologen, schafft damit einen Kontext, der sich mit Bera­tung und Besprechung mit einem Experten umschreiben ließe und bietet im­plizit an, eine Koalition mit ihm einzugehen. Mit dieser Art, ein Anliegen vorzutragen, ist nicht selten eine gewisse herausfordernde Haltung gegen­über der vermeintlichen Allmacht des Psychologen verbundena (Ich will doch mal sehen, was er in einem Fall tun wird, mit dem ich nicht fertig ge­worden bin.)"

Wenn wir Beratungsstrategien aufstellen, berücksichtigen wir, dass die Mitglieder des Sy­stems, die uns zur Hilfe rufen, dahin tendieren, sich auf dieselbe Ebene wie der Berater zu


stellen, dabei aber von ihm die Rolle des Magiers erwarten und damit eine uneindeutige Kommunikationssituation schaffen. Dieser Tendenz liegen allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu Grunde, die erklären

• warum es so schwierig ist, in Systemen Fuß zu fassen,

• warum Eltern oder Lehrer eher die Verantwortung für den Fall abgeben oder eine Bestäti­gung ihres Urteils suchen, statt etwas verändern zu wollen,                ;

• warum wir gern gesehene Fachleute bei Vorträgen sind, in denen sich die Probleme ins

Allgemeine verflüchtigen und in ihrer Mehrheit zu Problemen der "anderen" werden. Diesen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten wenden wir uns jetzt zu.

 

2.  Das Gleichgewicht von Systemen muss dann reorganisiert  werden, wenn die Sy­steme in Krisen geraten. Krisen sind Zeichen des Übergangs und der Instabilität

Wenn ein Kind beginnt den Kindergarten oder die Schule zu besuchen, wenn ein Jugendli­cher erwachsen werden will und sich aus der Familie löst, muss das Leben in der Restfami­lie neu organisiert werden. Auch der Wechsel von Schülern, Lehrern bis zu den Lehrplänen machen in Schulen Umorganisationsprozesse notwendig, wenn der "Laden" wieder funk­tionieren soll. Oft sind diese Um- und Reorganisationsprozesse mit Krisen verbunden. Sie sind ein Zeichen der Instabilität und des Überganges. Wer aber zeigt schon gerne seine schwachen Seiten, selbst wenn der Berater noch so lächelt? Welcher Berater hilft schon den verlorenen harmonischen Urzustand, das "verlorene Paradies" wiederherzustellen?

 


Eine im Internat wohnende Jugendliche fiel in einen katatonen Stupor, d. h. sprach nichts mehr und bewegte sich nur noch sehr langsam und roboter­haft. Bei einem Besuch der Mutter erstarrte sie auf dem mittleren Treppen­absatz zwischen zwei Wohnebenen. Auf der unteren Ebene wohnte ihr neuer Freund, während die Mutter auf der oberen Ebene stand. Die Mutter hatte eine starke homoerotische und symbiotische Beziehung zur Tochter, die noch oft bei ihr im Bett schlief. Sie lehnte die Beziehung der Tochter zu dem Freund ab. Der Tochter gegenüber leugnete sie aber ihre ablehnende Haltung.

Haben wir als Berater in Institutionen nicht die Möglichkeit, uns zu definieren, können wir schnell in die Situation der psychotischen Tochter geraten, die, egal was sie tut, immer et­was falsch macht. Tatsächlich finden wir in Institutionen je nach Management und Füh­rungsstil gemischte Beziehungsrealitäten. Sowohl hinter der harten als auch der weichen Beziehungsrealität stehen die impliziten Erwartungen, dass man die objektive und beste Wirklichkeit für die anderen kennt und damit die anderen so kontrollieren muss, dass sie sich so verhalten, wie man selbst will Dies schließt dritte Wege und "Sowohl-Als-Auch-Lösungen" aus. Für den Berater können unter diesen Prämissen Arbeitsdefinitionen verbun­den mit Beziehungsklärungen zu immer wiederkehrenden Frustrationen fuhren. Über­haupt wird eine individuelle Entwicklung, d. h. die Individuation der Systemmitglieder, ver­hindert. Solche Systeme gehen wegen mangelnder Anpassungsfähigkeit langfristig bank­rott.


3.     Es gibt Systeme, in der die oberste Regel die ist, dass sich nichts verändern darf

Wenn die oberste Regel die ist, dass keine neuen Regeln mehr eingeführt werden dürfen, können notwendige Entwicklungen schlecht stattfinden. In manchen Familien, Gruppen und Institutionen herrscht eine so harte Beziehungsrealität, in der nur die "Entweder-Oder-Logik" (Entweder du macht das oder du wirst bestraft, fliegst heraus.) gilt. Mit die­sem ständigen Damoklesschwert der Bestrafung und Trennung wird eine Pseudoharmonie erzeugt und Ambivalenz unterdrückt. Die Spannungen werden oft in den psychosomatischen Störungen der Gruppenmitglieder, die sich ohne Rücksicht auf eigene Gefühle an­passen müssen, sichtbar (HALAY 1981).

Im Gegensatz dazu kann die oberste Regel, dass es keine neue Regel geben darf, auch so verfolgt werden, indem nichts festgelegt wird Verdeckt entstehen starke Verstrickungen, obwohl man äußerlich vermeidet, Beziehungen zu definieren und Verantwortung zu über­nehmen. In dieser weichen Beziehungsrealität spricht man im Konjunktiv und kontrolliert durch dieses unklare Verhalten die anderen. Um ja nichts falsch zu machen, hört man auf zu handeln oder handelt verrückt-psychotisch. Die Unmöglichkeit, sich abzugrenzen, möchte ich an folgendem praktischen Beispiel zeigen:


4.     In Systemen wird kontrolliert, dass die Regeln des Zusammenspiels eingehalten werden

Das Zugeständnis von mehr oder weniger Freiheit, die Möglichkeit zu wählen, scheint so­wohl in der harten wie auch in der weichen Beziehungsrealität eingeschränkt zu sein. Mit dem Ausmaß und mit der Qualität, mit denen die Mobilität der Mitglieder eines Systems eingeschränkt werden, halten Systeme die Trans- und Interaktionen zwischen Menschen in gewünschten Bahnen, Überhaupt finden die Transaktionen der Menschen gewöhnlich in einer physisch und sozialkulturell hochstabilen Umwelt statt Sie werden selten ihre Mö­beleinrichtung am Arbeitsplatz wechseln und sich öfters im vertrauten Territorium und Be­kanntenkreis aufhalten als in fremden Kulturkreisen. Romane, Filme, Theaterstücke, die über menschliche Erfahrungen geschrieben werden, tradieren Sitten, Gesetze, Regeln, Werte und Überzeugungen ebenso weiter, wie politische Programme sowie die endlosen Modelltransaktionen in den Ausbildungsstätten.

Wenn der Sozialwissenschaftler SHEFLEN (1976) die Haut des Menschen nicht mehr als wichtige Grenze ansieht, d. h., es wissenschaftlich egal ist, ob ein Ereignis ein äußeres oder inneres, ein psychologisches oder soziales Ereignis ist, wundert es, wie lange sich in der westlichen Welt der Mythos von der Freiheit des Menschen hält. Unabhängig von einem Untersuchungsergebnis, dass Menschen mit Illusionen glücklicher leben, werden aber in der Ambivalenz zwischen Autonomie und Abhängigkeit gerade die kleineren Ab­weichungen im Verhaltenskontext bedeutend und erweitern Erfahrungen mit Menschen unterschiedlicher Loyalität, verschiedenen Handlungsprogrammen, Sinnbezügen und Ziel­vorstellungen unseren Entscheidungsspielraum. Darum geht es in freien Gesellschaften, wenn Entwicklung möglich sein soll Beratung kann nach meiner Überzeugung darauf hin­arbeiten, Erfahrungs-, Erklärungs- und Verhaltensmöglichkeiten zu erweitern und "Häute der Autonomie" zu verstärken. Dies muss den Widerstand von Systemen heraufbeschwö­ren, die nichts ändern wollen. Jeder Veränderungsvorschlag des Beraters kann eine Kon­trollreaktion des Systems hervorrufen. Wollen wir Eingang ins System finden, müssen wir die Transaktionsordnung und die hierarchische Organisation des Systems genau beachten. Abweichler und Abweichungen werden darin vor allem mit drei Maßnahmen kontrolliert und korrigiert

a) mit der vertikalen und horizontalen Mobilitätskontrolle,

b) mit der Gedanken- und Ideenkontrolle,

c) mit der Kontrolle durch Schuldzuschreibungsprozeduren.

Da wir es als Berater von der Aufgabenstellung her mit Abweichlern zu tun haben und durch Veränderungsvorschläge am falschen Ort und zum falschen Zeitpunkt selbst zu Ab­weichlern werden können, sollten wir diese Kontrollarten kennen.

Schuldzuschreibungsprozedur: Dass sofort nach dem Schuldigen und Sündenbock gesucht wird, wenn etwas in Gruppen schief läuft, kennen Sie sowohl aus Ihrer Alltags- als auch Ih­rer Beratungserfahrung. Täglich können wir im Fernsehen erleben, wie die Transaktions­ordnung von Helden und Schuften bestimmt wird.

Gedanken- und Ideenkontrolle: Dass ihre Ideen und Gedanken nicht nur im Erziehungs­prozeß und in den endlosen Wiederholungen von Modelltransaktionen in den Ausbildungs­stätten, sondern auch in Ihrer beruflichen Sozialisation geprägt werden, ist Ihnen vielleicht weniger bewußt. Spätestens, wenn Sie den ersten Fortbildungsantrag von Ihrem Arbeitge­ber abgelehnt bekommen haben, wissen Sie, dass Sie vor dissonanten Informationen und Alternativerfahrungen geschützt werden müssen.

Vertikale Mobilitätskontrolle: Obwohl wir immer wieder nach Tellerwäschermanier glauben sollen, dass auch wir an die Spitzenposition einer Institution gelangen können, ver­engt sich faktisch der Weg nach oben. Dieser Enge müssen wir uns natürlich anpassen, d. h., die vertikale Mobilität wird sorgfältig auf diejenigen beschränkt, deren Verhalten ge­wissen Normen gerecht wird. Als Berater in einer neugegründeten Organisation dürfen wir uns nicht wortgläubig von der scheinbaren Offenheit über die wirklichen Machtverhältnis­se täuschen lassen. Zwar vermitteln Institutionen in ihrer Anfangs- oder Pionierphase den Eindruck von Offenheit und Beweglichkeit, aber spätestens wenn die Übersichtlichkeit ver-


loren geht und die Statuskämpfe unter den Mitarbeitern verwirrender werden, reklamieren die Mächtigen einen differenzierteren Organisations- und Verwaltungsapparat Die hori­zontale und vertikale Mobilität der Mitglieder wird geregelt Mit der festeren Struktur wer­den die Machtverhältnisse stabilisiert und evtl. offengelegt Eine mögliche strukturelle Ar­beitserleichterung kann mit der Gefahr verwaltungsmäßiger Abgrenzung und Erstarrung einhergehen. In der Pionierphase haben Sie als abhängiger Berater die beste Möglichkeit, ihre Stellung, ihre Tätigkeit und ihr Programm zu institutionalisieren. Das Verhalten der Erzieherin bei meinem Dienstantritt kann ein Beispiel dafür sein, dass dies in unserer Insti­tution versäumt wurde.

Horizontale Mobilität wird vor allem durch seelische Bindungen kontrolliert, die von Lie­be, Haß bis zur Hingabe im Glauben bei religiösen Gruppen gehen kann. Bildet ein Kind eine Brücke zwischen einem Elternpaar und rettet damit deren Beziehung, kann es schlecht seine Position aufgeben, ohne dass die Elternbeziehung platzt Ein Kind kann also unlösbar in einer familiären Triangel verstrickt sein, die seine horizontale Mobilität, sein Lösen aus der Familie völlig einschränkt Wenn das Kind älter wird, wächst der gesellschaftliche Druck auf das Kind, selbständiger und unabhängiger zu werden. Um diesen Konflikt zu lö­sen, wird das Kind zum Versager, indem es krank, verrückt, drogenabhängig oder apa­thisch reagieren kann, um einerseits die Eltern durch gemeinsame Sorgen zu binden und andererseits das Versagen als unverschuldet und unwillkürlich zu erklären. Selbst wenn das Kind das Haus verläßt, kann die seelische Verstrickung anhalten. Beispielsweise wird der zukünftige Ehepartner des jungen Menschen nur zum einflußlosen Anhängsel der Fa­milie, um die äußere Form zu wahren.

Das folgende Beispiel zeigt, was einem Berater passieren kann, wenn er die hierarchischen Machtverhältnisse und die eingeschränkte Mobilität seines Klienten mißachtet: Eine im Internat wohnende Auszubildende hatte verschiedene Schwierig­keiten in der Ausbildungswerkstatt und in der Schule. Außerdem kam es zu nächtlichem Einnässen und sozialen Spannungen mit ihren Kolleginnen, wenn der Streß besonders hoch war. In Einzelgesprächen setzte sie sich zu­dem mit ihrer sexuellen Identität auseinander. Als psychologischer Berater war ich auf diese Probleme angesprochen worden. Eine Therapie bei mir wurde vor allem von der Leitung des Internats sowie den Mitarbeitern in Ausbildung und Schule befürwortet. Je positiver meine ersten Gespräche mit der Jugendlichen verliefen, desto stärker wuchs der Widerstand einer Erzieherin, die der Jugendlichen distanzlos nahe stand und diese öfters nach Hause mitnahm. Die Auszubildende kam in einen Loyalitäts- und Bezie­hungskonflikt zwischen ihrer Bezugsperson, mir und den Forderungen der anderen Bereiche. Die Erzieherin mischte sich verdeckt in das therapeuti­sche Geschehen ein, indem sie die Jugendliche zum Abbruch der Therapie drängte, aber offiziell die Sprache der anderen Bereiche und ihrer Leitung


sprechen musste. Mein Kontakt zu dem Vorgesetzten der Erzieherin, in dem die distanzlose Beziehung der Erziehung zur Sprache hätte kommen kön­nen, musste Furcht auslösen. So eskalierte ein Entlastungskonflikt zwischen der Erzieherin und mir mit anderen formalen Inhalten, bei dem der Vorge­setzte Loyalität gegenüber der Erzieherin zeigen konnte und der Berater in die Sündenbockrolle kam. Der folgende Kompromißvorschlag einer Thera­pie außerhalb der Institution wurde faktisch boykottiert. Beratungserfolge wären, wenn überhaupt, nur in enger Zusammenarbeit mit dieser Bezugs­person möglich gewesen.

Die Erzieherin hatte die horizontale Mobilität der Jugendlichen einge­schränkt, indem sie eine generationsübergreifende Koalition mit der Ju­gendlichen einging. Es ging ihr nicht um ein offenes pädagogisches Angebot oder eine offene Allianz, an der sich alle Jugendlichen der Gruppe hätten be­teiligen können. Normalerweise hätte sie als Erzieherin und Mitarbeiterin eher in der "Elternrolle11 auf unterschiedlicher Ebene in Beziehung stehen müssen. Der Bruch der Generationslinie musste deshalb möglichst verdeckt sein, führte aber zu Konflikten der abhängigen Jugendlichen mit ihren Kolle­ginnen und anderen Bereichen. Ein Ziel möglicher Beratung hätte die Anhe­bung der Kompetenz und Autonomie der Erzieherin sein können, damit die­se an der Jugendlichen nicht ihre eigenen Probleme aufarbeitet, sondern sich lösen kann. Voraussetzung dazu wäre ein Zugang zur Erzieherin gewesen Bei unseren geringen Einflußmöglichkeiten ziehen wir den kürzeren, wenn wir uns über das Verhalten der Erzieherin beklagen.

5.     Der Berater selbst als Sündenbocksucher

Berater und Therapeuten selbst neigen sehr gerne zu Schuldzuschreibungsprozeduren, oh­ne dies explizit zu wollen. Wenn man Eltern zur Beratung einlädt, rechnen sie damit, dass man ihnen vorwirft, dass sie am Verhalten ihres Kindes schuld sind. Deshalb verhalten sich die Eltern distanziert und defensiv.

"Manchmal fragen sie: "Meinen Sie es ist unsere Schuld, dass unser Sohn verrückt ist?" Dann antwortet der Therapeut wahrscheinlich, dass die Ursa­che komplex sei. Wenn die Eltern dann sagen: "Wir haben unser Kind nicht verrückt gemacht!" erwidert der Therapeut: "So?!" und zwar in einem Ton, der vermittelt, dass sie Schuld hätten. Die Szene erinnert an Kafkas Prozeß. Eltern beginnen sich gegen Beschuldigungen zu verteidigen, die gar nicht er­hoben worden sind." (HALAY 1980)


Vor allem organische und psychodynamische Theorien fuhren zu Schuldzuschreibungspro­zeduren und Gedankenkontrollen. Sie bestätigen oft die eingeschränkte Mobilität des "Kranken", der das Stigma eines unheilbaren Charakters trägt. Auch ist es schwierig, allei­ne auf der Grundlage einer psychodynamischen Theorie einen positiven Ansatz zu verfol­gen, da man davon ausgeht, dass gewöhnlich die negativen Aspekte, wie Angst, Feindselig­keit, Haß, Leidenschaft und dergleichen verdrängt werden und die Störungen ihren Grund in vergangenen Entwicklungen haben. Auf dem Hintergrund dieser Theorien .fällt es dem Berater schwer, die Eltern aufzufordern, Erziehungsgewalt über das Kind zu übernehmen. Er hat ja die Meinung, dass die Eltern einen schädlichen Einfluß auf das Kind in der Ver­gangenheit hatten und in der Gegenwart haben könnten. Vereinfacht gesagt, will er - wie viele therapeutische und pädagogische Einrichtungen - das Kind vor den Eltern retten.

Dagegen entdeckten strukturelle Familientherapeuten, dass die Familienhierarchie mit ge­störten Kindern nicht die übliche war, bei der die Eltern die Erziehungsgewalt innehatten und gegenüber den Kindern Autorität ausüben und bei der die Großeltern die Eltern bera­ten. Bei problematischen Familien kommt es zu generationsübergreifenden Koalitionen, in denen ein Elternteil mit einem Kind gegen den anderen Elternteil paktiert oder die Groß­mutter sich gegen die Eltern mit dem Kind verbündet oder ein Experte, z. B. ein Berater, einer Fraktion der Familie beitritt und diese gegen den anderen Teil der Familie unter­stützt. Dies verwirrt die Situation, in der manchmal das Kind mehr Macht hat als ein El­ternteil. Für die Familientherapeuten war nun klar, dass es naiv war, eine mächtige Groß­mutter zu ignorieren oder sich gegen die Eltern mit dem Kind zu verbünden Aus der Sicht­weise von generationsübergreifenden Koalitionen entwickelte sich u. a. die familienthera­peutische Strategie:

a) Zugang zum gesamten System zu finden,

b) das Kind zunächst wieder in das System zu binden,

c) die Kompetenz der Erziehungspersonen entsprechend der hierarchischen Ordnung so zu heben, dass sie das Kind selbst loslassen können.

6.     Erste Aufgabe des Beraters: Der effektive Zugang zum System

Als Berater in Institutionen können wir das Konzept für den Zugang in Systeme überneh­men, das der strukturelle Familientherapeut MENUCHIN (1977) formuliert hat:

"Wenn der Therapeut sich der Familie anschließt, hat er zwei wichtige Auf­gaben:

Er muss sich der Familie anpassen, aber er muss auch seine führende Posi­tion innerhalb der therapeutischen Einheit halten.

Er darf dem Sog des Familiensystems nicht zu stark nachgeben. Er muss sich so weit der Familienorganisation anpassen, dass er in der Lage ist, in sie einzutreten, und gleichzeitig die Freiheit behalten, Interventionen vorzunehmen, die die Familienorganisation herausfordern und ihre Mitglieder zwin­gen, sich ihrerseits so an ihn anzupassen, dass die Bewegung auf das thera­peutische Ziel hin erleichtert wird.

Wenn der Therapeut dem Druck der Familie erliegt, sich ihr anzuschließen; dass die Familie ergänzt und perpetuiert wird, dann wird er unter Umstän­den seine Handlungsfreiheit einbüßen. Er hat dann nicht mehr die Macht; neustruktuierende Interventionen durchzusetzen. Seine Eingabe ergänzt dann lediglich ein dysfunktionales System und sorgt für die Festigung der fehlangepaßten transaktionalen Muster, die er eigentlich neu strukturieren sollte."

Oft fühlte ich mich einerseits von pädagogischen Mitarbeitern unbewußt oder bewußt miß­braucht und benutzt, um deren Disziplinprobleme aufzufangen, indem der Jugendliche un­terdrückt werden sollte. Andererseits meinte ich auch extrem, die Rolle des Verteidigers für den Jugendlichen spielen zu müssen und beachtete nicht, dass ich hier auch nur Werkzeug war.

7.     Beratungsstrategien

Es stellt sich die Frage, wie wir unserer Aufgabe, den operativen pädagogischen o. ä. Ein­heiten zu dienen, gerecht werden, ohne gegen andere Menschen mißbraucht zu werden? Wenn wir noch etwas von der strukturellen Familientherapie für unseren Zugang und Um­gang mit Institutionen lernen können, so ist es die Beachtung der hierarchischen Ordnung und Machtverteilung in einer Institution. Ein Problem liegt darin, eine führende Position, wie es MINUCHIN fordert, einzunehmen, obwohl man per se in einer Institution keine solche Position besetzt hat, wenn ich beispielsweise meine Stellung im Organigramm mei­ner Institution betrachte. Es ist hier nicht möglich, Rezepte für Ihre konkrete Situation im einzelnen zu geben, aber wir können allgemeingültige Konzepte und Strategien formulie­ren. Schon die erste Regel zeigt, dass die Ordnung in einem System nicht ohne Folgen zu umgehen ist.

7.1   Der Berater soll sich bei seiner Annäherung an das System an die dort bestehende Ordnung halten und jede negative Bewertung der Institution und der ihr zugehö­renden Person vermeiden

Gerade dies fällt uns schwer, da wir angetreten sind, Veränderungsprozesse zu empfehlen oder anzukurbeln. Selbst wenn wir von den Mächtigen zur Hilfe gerufen werden, fürchten sie gewöhnlich die Veränderung, da dabei Ihre Stellung in Frage gestellt werden könnte. Sie wünschen, dass der "harmonische" Urzustand in der Organisation wiederhergestellt wird.


SELVINI-PALAZZOLI u. a. (1984) haben sehr anschaulich beschrieben, wie sich ein Be­ratungsteam auf den ersten Kontakt mit dem Direktor eines Schulsprengels vorbereitet. Da dieses Team nicht unmittelbar dem Direktor, sondern einer Stadtverwaltung unterstellt ist, muss klargemacht werden, dass sich das Team zwar in das schulische System eingliedert, aber nicht als Komponente dieses Systems betrachtet werden darf. Man zieht deshalb zu­nächst ein formales Vorstellungsschreiben vor, in der sich die Stadtverwaltung als Arbeit­geber des Teams präsentiert und in der auf die Anfrage der Schule eingegangen wird. Gleichzeitig wird dem Direktor ohne direkt verbale Äußerung klar gemacht, dass das Team nicht dem System Schule angehört. Da der Direktor in der Schule die oberste Rangstufe hat, ist dann ein Gespräch zwingend notwendig, in dem eine Beziehung aufgebaut werden muss, die vom Geist der Zusammenarbeit, der Eindeutigkeit und der gegenseitigen Hoch­achtung geprägt ist. Selbst wenn dieser als autoritär verschrieen ist, darf seine Person nicht umgangen und dadurch disqualifiziert werden.

Ich selbst verscherzte mir den Zugang zu einem Erzieherteam als junger Berater, weil ich innerlich über deren autoritären und rüden Umgangsstil mit Jugendlichen entsetzt war. Auch wenn ich meine Entrüstung nicht immer direkt ansprach, vermittelte ich sicher non­verbal genügend kritische Botschaften. Einen entscheidenen Fehler machte ich außerdem, als ich die Probleme beim Leiter dieser Erzieher erwähnte. Er erklärte Konflikte im Inter­nat immer als individuelle Probleme der Jugendlichen und nie im sozialen Kontext. So rannte er mit meinen Problematisierungen sofort zu seinen Untergebenen, die sich natür­lich gegen die Vorwürfe verteidigen mussten, indem sie meine Rolle kritisierten. Sie fühlten sich mit Recht verschaukelt, obwohl ich einen offenen und ehrlichen Problemlöseprozeß anstrebte. In einem solchen kommunikativen Kontext werden selbst Verbesserungs- und Literaturvorschläge eher als Kritik statt als konstruktiver Beitrag betrachtet. Ratschläge, die sagen, dass man nicht kompetent für Lösungen ist, und die deshalb Widerstand hervor­rufen, werden zu Schlägen. Dass ohne Beziehung zur Leitung überhaupt nichts geht, wird in der folgenden Regel deutlich.

7.2   Der Berater soll seine Stellung im Organigramm des Systems beachten, da davon das Feld seiner Intervention und der programmäßigen Maßnahmen abhängt.

Mit dem Eintritt in eine Institution akzeptieren wir eine gewisse hierarchische Abhängig­keit, die sich vom Wirken in freier Praxis bezüglich der Modalität der Arbeitszeit bis hin zu den Institutionszielen unterscheidet. Oft verführt die etwas besondere Stellung der Berater zu der irrigen Annahme, dass er nichts mit der Hierarchie zu tun habe. Im ungünstigen Fall definiert deshalb der Berater nicht seine Kompetenzen und Tätigkeitsfelder und überläßt es der Organisation, ihn zu definieren.

Als Berater darf man nicht davon ausgehen, dass man auf die Spitze der Organisation oder auf das Subsystem der hierarchisch gleichgestellten Mitarbeiter direkten Einfluß nehmen kann. Die von MINUCHIN geforderte "überlegene Position" des Beraters steht im Widerspruch zu seiner wirklichen Stellung im Organigramm der Institution, d. h., er unter­steht der Spitze und ist den anderen gleichgestellt. Ist man Stabsmitglied, hat man eine heikle Position, wenn es bei Problemen um die Beziehungen und Offenheit der Mitarbeiter geht. Wenn man die hierarchische Rangreihe so gradlinig betrachtet, wie das SELVINI-PALAZZOLI u.a. (1984) tun, muss man sich als Berater fragen, wie man überhaupt in einer Situation Einfluß nehmen kann, in der strukturell gesehen kein direkter Einfluß mög­lich ist.

Ein Ausbilder schilderte mir, wie er vor Jahren mit der Therapiestunde für einen seiner Auszubildenden nicht einverstanden war. Er ging deshalb zum Ausbildungsleiter, ohne dass dies der Psychologe wußte, und bat seinen Vor­gesetzten, die Probleme mit dem Jugendlichen allein lösen zu dürfen, was auf den ersten Blick in Ordnung sein kann. Da der Ausbildungsleiter natür­lich loyal gegenüber dem Ausbilder war, und nicht gegenüber dem konkur­rierenden Begleitenden Dienst, erklärte er sich mit dem Vorschlag des Un­tergebenen einverstanden, ohne den Psychologen zu informieren, der er­staunt war, dass seine Stunden boykottiert wurden.

Wenn wir also keinen direkten Einfluß haben, können wir uns zum Ziel setzen, eine funk­tionale Kommunikation zwischen den Beteiligten zu fördern, d. h., indirekt auf Problemlö­seprozesse Einfluß zu nehmen. In Gesprächen, in denen wir Einfluß erhalten wollen, soll­ten wir uns um die Moderatorenrolle bemühen. In dieser Rolle können wir Problemlö­sungsprozesse vorschlagen, Arbeitsprogramme anregen und funktionale Kommunikation fördern. Als abhängiger Berater macht man eher mit einem Arbeitsprogramm seine Kom­petenzen und Funktionen deutlich, um von den Subsystemen akzeptiert zu werden. Die Psychologen unserer Institution hatten versäumt, diese wichtige Führungsrolle in interdis­ziplinären Fallgesprächen anzumelden. Sie saßen als Teilnehmer in der Runde, um entwe­der Koalitionsangebote der Mitarbeiter anzunehmen, die Jugendlichen gegen die Mitarbei­ter zu verteidigen oder in neutraler Rolle an den Rand gedrängt zu werden. Eine Supervisi­onsrolle hatten sie ebensowenig. Deshalb wird man mehr inhaltliche Initiativen entwickeln müssen, die mit der hierarchischen Spitze abgestimmt werden. Dabei muss man nicht zum Blümchen im Knopfloch des Direktors werden, wie es SELVINI-PALAZZOLI u.a. (1984) beschrieben hat. Die Einladung in die Bar, die der Direktor am Ende einer Fortbil­dungsveranstaltung aussprach, lehnte der Psychologe des o. g. Beraterteam taktvoll und lie­benswürdig ab, um die Autonomie und Unabhängigkeit des Teams in den Augen der anwe­senden Lehrer zu wahren. Die notwendige Forderung, als Berater keine Koalitionen einzu­gehen, wird in der nächsten Regel ausgedrückt.


7.3   Der Berater darf keine verdeckten Koalitionen eingehen, sondern soll offene, zeit­lich begrenzte Allianzen und kooperative Probleinlöseprozesse anregen.

Verdeckte Koalitionen werden als Bündnisse von Mitarbeitern unterschiedlicher hierarchi­scher Ebenen gegen andere Personen geschlossen und dennoch geleugnet Wir können ver­deckte Konfliktstrategien daran erkennen, dass

a) uns eine Allianz ohne festumrissenes und konkretes Ziel als Scheinvorschlag zugun­sten einer Sache oder Person angeboten wird,

b) das Gespräch notgedrungen unter vier Augen erfolgt, d, h. dyadischer Natur ist,

c) die verbalen und vor allem nonverbalen Botschaften auf das Vorhandensein eines "Ge­heimnisses deuten", das gewahrt bleiben muss.

"Nur in einem Gespräch unter zwei Personen ist es überhaupt möglich, mit Hilfe von Anspielungen und halben Worten bestimmte Informationen über Abwesende zu geben und zugleich eine gewisse Reserve gegenüber den eige­nen Worten und Botschaften, mit denen eine stillschweigende Übereinkunft darüber erreicht wird, dass man über den Inhalt des Gesprächs und, was noch wichtiger ist, über die Art der Beziehung, die mit in Vorschlag gebracht worden ist, am besten nichts verlauten lassen wird. Damit, dass eine solche Unterhaltung passiv "hingenommen" wird, sind die Voraussetzungen ge­schaffen, dass der Adressat sich schließlich in eine verleugnete Koalition hin­einziehen läßt und so eine gewisse Einschränkung seiner Wirkungsmöglichkeiten hinnehmen muss. Diese Einschränkung hat unserer Meinung nach mit folgenden Faktoren zu tun:

a) Es ist dem Psychologen nicht möglich, bei der Definition seiner Bezie­hung zu den übrigen Mitgliedern der Institution auf seinen Bedingungen zu beharren.

b) Der Psychologe hat angesichts der Natur der Botschaften, die die verleug­nete Koalition unterstützen, keine Möglichkeit mehr, funktionale Kom­munikation in die Wege zu leiten, denn er ist außerstande, seine verhal­tensmäßigen Kommunikationen und Reaktionen zu kontrollieren.

c) Der Psychologe erkennt, dass es ihm nicht mehr möglich ist, sich eines wirksamen Instruments zu bedienen, nämlich Kontexte der Zusammen­arbeit zu strukturieren. Die verleugnete Koalition setzt nämlich unter an­derem die Regel der "Instabilität der Kontexte" (SELVINI-PALAZ­ZOLI 1984, S. 260)."

Wie in familiären Triangeln wird in den Botschaften der institutionellen Koalitionäre so­wohl die Koalition bestätigt als auch zurückgewiesen. Beklagt sich beispielsweise versteckt eine Mutter bei ihrem Kind über Verhaltensweisen ihres Mannes und wird das Kind dann gegenüber dem Vater aggressiv, kann die Mutter wiederum sich über das lieblose Verhalten heutiger Kinder im Umgang mit ihren Eltern aufregen. Eine solche Kommunikation wird für das Kind dysfunktional und zur Koalitionsfalle.

In diese unbewußte Falle wurde ein Kollege mit dem Gesamtleiter der Institution und der Sekretärin des Psychologischen Dienstes gegen den Leiter des Psychologischen Dienstes, der keinen Zugang zu seinen Mitarbeitern fand, da er selbst Koalitionär war, verstrickt. Mit einem Bypass zum Gesamtleiter wurde der Psychologische Leiter ausgeschaltet, der sich wiederum in einem Bypass über den Gesamtleiter bei dessen vorgesetzter Stelle erfolglos be­schwerte, damit aber seine Entmachtung einleitete. Trotz der folgenden Ent­machtung des Psychologischen Leiters konnte aber wegen der verdeckten Koalitionen mit instabilem kommunikativem Kontext, die Kommunikation nicht funktionaler, d. h. vertrauensvoller werden. Konsequent folgte daraus, dass sich der mit dem Gesamtleiter verdeckt koalierende Psychologe mit den anderen Kollegen zerstritt Dass nach diesem Wirrwarr die Sekretärin einen Freiraum gegenüber den geschwächten Psychologen gewann und von Mitar­beitern ironisch als heimliche Leiterin des Psychologischen Dienstes tituliert wurde, wundert nicht.

Es zeigt wie dysfunktional ausdauernd kommunikative Kontexte durch verdeckte Koalitio­nen zementiert werden. Individuell gesehen waren die beteiligten Personen überzeugt, dass Beste zu wollen. So glaubte der Gesamtleiter, den untergebenen Mitarbeitern zu helfen, und mißachtete einerseits mit einer verdeckten Koalition die hierarchische Ordnung, auf die er andererseits pochen muss, um seine Stellung nicht zu gefährden. Immer wieder war in dieser Institution zu beobachten, dass mittels verdeckter Koalitionen Informationen be­schafft und Ergebnisse ausgehandelt wurden. Die Folge daraus ist, dass selbst bei konstruk­tiven Vorschlägen des Managements unter den Mitarbeitern große Unsicherheit über die Bedeutung, Seriosität und Zuverlässigkeit der Führungsbotschaften und Aufträge herrscht.

Differenziert man zwischen hierarchisch und autoritär, sind solche Intrigenketten vor allem Ausdruck eines Arbeits- und Betriebsklimas mit den o. g. weichen oder harten Beziehungs­realitäten. Intrigen und verdeckte Koalitionen wachsen u. a. mit

- der Konfliktdichte (Häufigkeit)

• der Konfliktaufladung (wachsende Intensität im Sinne eines Spannungsstaus)

• einer Tabuhaltung (äußere Friedfertigkeit zur Schau tragen)

- einer autoritär-hierarchischen Machtverteilung, in der der Kampf der Kompetenz-Ri­valitäten die Effektivität des Systems aufhebt, statt sie durch kooperative Moderation zu fördern (POURROY 1986).

POURROY (1986) ruft deshalb wie viele Führungstrainer das Management auf, fair zu moderieren, und meint, dass bei entsprechend hierarchischer Machtstellung funktionale Kommunikation gefördert oder verhindert werden kann:


"Wer also ausgleichen will, muss faire Besprechungen fuhren und geduldig überzeugen. Sicherlich hilft vorbildliches Verhalten des Management, näm­lich jedem klarzumachen, das Intrigen zu den unfeinen Verhaltensweisen gehören und als Foul gewertet werden. Bereits ein offener Appell, "nicht ge­geneinander zu intrigieren", kann das Signal dazu setzen. Wirksam wird das aber erst, wenn man der Konfliktaufladung nicht nur als Vorbild und verbal entgegenwirkt, sondern auch dadurch, dass man modernen Methoden, z. B. dem sogenannten "Entscheidungstraining", Raum gibt.... Die Verfechter sa­gen: Gewiß, die Tatsachen sind komplex, aber was die Probleme verschlim­mert, sind die eifernden, miteinander zerstrittenen Menschen Sie zu einer gegenseitigen, neuen Zielorientierung zu bringen, dafür wurde die Methode entwickelt."

Während in der Großindustrie dies schon erkannt und konsequent weiterentwickelt wird, scheinen sich im sozialen Bereich und im öffentlichen Dienst diese Entwicklungen nur langsam durchzusetzen. Liegt dies daran, dass in diesen Bereichen besonders machtorien­tierte Menschen arbeiten oder die Menschen glauben, als Fachleute des sozialen Lebens besonders gut führen zu können und sich keine Blöße geben zu dürfen? Wenn wir als Bera­ter funktionale Kommunikation und positive Moderation in Gang setzen wollen, sollten wir uns präventiv

- um aktive Allianzen bemühen,

- bei denen wir die hierarchischen Strukturen beachten und

- hinreichend alle Mitglieder der Institution informieren.

Bei einer Allianz versuchen wir mit anderen Personen eine Beziehung auf der Basis eines gemeinsamen Zieles oder Programms zu definieren, das allen Mitgliedern der Institu­tion bekannt ist. Gewöhnlich sind solche Gruppen auch für weitere Mitglieder offen und sollten durch inhaltliche und zeitliche Begrenztheit bis zur Problemlösung nicht erstarren und ewig fortdauern, sondern für Problemlösungen flexibel sein. Informiert der Berater auf allen Ebenen, kann er als Bundesgenosse für Problemlösungen auftreten und Koalitionen diplomatisch ablehnen. Rein passive und abwartende Haltungen, mit dem Glauben, über allen Parteien stehen zu müssen, drängen den Berater an den Rand. Um nicht in Koalitio­nen zu geraten, muss er noch folgende Regel beachten.

7.4   Der Berater soll vom ersten Augenblick eine eindeutige Haltung einnehmen, die allerdings nicht von Hochmut und Anmaßung geprägt ist.

Wenn man als Berater in eine Institution eintritt, ist deren Spiel gewöhnlich schon im Gan­ge, und wir erleben nicht den Status nascendi wie in einem gruppentherapeutischen oder

-pädagogischen Prozeß. Oft haben die Institutionen schon Erfahrungen mit Beratern ge­sammelt oder zumindest ein bestimmtes Bild von ihnen, gegen das wir angehen müssen. So war es für einen Teil der pädagogischen Mitarbeiter der Institution, in der ich als Berater abhängig eintrat, einerseits sehr wichtig, dass ich möglichst direkt die Jugendlichen beob­achtete, d. h. mit ihnen feilen, Tischtennisspielen u. a. machen sollte. Dabei sollte ich die Pädagogen in ihrem Urteil und Schluß bestätigen, dass sich einige Jugendliche trotz der gro­ßen pädagogischen Bemühungen unmöglich verhielten Der andere Teil der Mitarbeiter hatte gegen die direkte Beobachtung bedenken, da dabei auch die eigene Arbeit qualifiziert werden konnte. Die größten Phantasien und Ängste hatten Mitarbeiter über die Einzelge­spräche der Jugendlichen mit dem Berater, in denen die Jugendlichen vom "Leder zogen", ohne dass sich die Mitarbeiter wehren konnten.

Wie sollen Mitarbeiter überhaupt die Beratertätigkeit einschätzen, wenn sich die Berater selbst über ihre Definition streiten und diesen Streit nach außen tragen? So definierte ein Kollege seine Rolle mit Distanz und half bei der Personalauslese der Mitarbeiter mit. Ande­re hatten für sich eine völlig distanzlose Beraterposition zu Mitarbeitern oder Jugendlichen eingenommen, in der sie letztlich zum verlängerten Arm der pädagogischen Mitarbeiter wurden, d. h., mit den Mitarbeitern gegen die Jugendlichen oder mit den Jugendlichen ge­gen die Mitarbeiter koalierten. Die Berater achteten also nicht darauf, geschlossen und ein­deutig gegenüber dem System aufzutreten, was durchaus bedeutet hätte, dass man verschie­dene Aufgaben und Tätigkeitsfelder innerhalb der Institution definiert. Offenes Gerangel um die Definition beraterischer Tätigkeit wird vom System gewöhnlich stabilisierend ge­nutzt, dass heißt, der Berater wird je nach Bedarf bedeutungslos an die Wand gedrängt, als Argumentationshilfe zur Fortsetzung der Transaktionen genutzt oder zum Sündenbock dysfunktionaler Kommunikation erklärt.

7.5   Das einzige Verhalten über das wir als Berater wirklich "Macht" haben oder zu haben glauben, ist unser eigenes Verhalten, da unser Werkzeug unsere eigene Per­son ist.

Es ist sicher nicht schlecht, wenn wir als Berater über einen breiten theoretischen Erklärungshintergrund verfügen. Wem nützt es aber, wenn wir nur Mängel aufdecken und eine Veränderung nur Widerstand hervorruft. Nach Jahren beraterischer Tätigkeit bin ich im­mer mehr zur Auffassung gelangt, dass es wichtig ist, Systeme zu reorganisieren, indem die Kompetenz der Beteiligten entsprechend ihrer hierarchischen Rolle gestärkt, statt diese durch Kritik geschwächt wird. Es ist gut, mehr nach den Ressourcen der Menschen zu fra­gen und auf diesen aufzubauen. Deshalb haben wir einen Zielrahmen dem älteren Pro­blemrahmen gegenübergestellt (siehe BACHMAIR u. a, 1989).

Will man echt sein, ist es schwer und manchmal umstritten, als Berater jede negative Be­wertung der Institution und der ihr zugehörenden Personen zu unterlassea Ein Konflikt im richtigen Augenblick kann Entwicklungen in Gang setzen. Man darf aber als Berater nicht das Bewußtsein verlieren, dass man keine direkte Macht hat und bei einem solchen oft ver-


zweifelten Wagnis seine Existenz riskiert, wie das bei SELVINI-PALAZZOLI (1984) be­schrieben wird.

Trotz besten Willens müssen wir deshalb oft vor den Türen der Systeme parken, weil wir nicht das Territorium betreten dürfen. Vielleicht können wir Hindernisse entdecken und uns bemühen, diese wegzuräumen. Manchmal werden wir aber auch mit Triumph empfan­gen, um in einen goldenen Käfig oder auf eine kleine Insel verbannt zu werden, die keinen Kontakt zum Festland hat (SELVINI-PALAZZOLI 1984). So ist es kein Wunder, wenn HAEHNEL und MAGIN (1989) in einer Umfrage feststellen, dass Ausgebranntsein, das Burnout-Syndrom, vor allem dort auftritt, wo

1. man sich einer Situation wie ein Opfer hilflos ausgeliefert fühlt,

2. man wegen mangelnder Anerkennung und Unterstützung unzufrieden ist und

3. wegen ungeklärter Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche nicht weiß, wo man seine Arbeit ansetzen darf,

4. man zu sehr engagiert ist und nicht für sein energetisches Gleichgewicht durch entspre­chende Freizeit sorgt.

Literatur

BACHMAIER, S.; FABER, J.; HENNIG, C.; KOLB, R. und WILLIG, W. (1989): Beraten will ge­lernt sein. 4. überarb. Aufl., München: Psychologie Verl. Union.

HALAY, J. (1981/1988): Ablösungsprobleme Jugendlicher. Familientherapie: Beispiele Lösungen. Mün­chen: Pfeifier.

HAEHNEL, F. W./MAGIN, J. (1989): Untersuchungen über das Burnout-Syndrom bei Gruppenpäd-agoginnenApädagogen in BBWs. In: Berufliche Rehablitation, Bd. 3.

KOLB, R. (1985): Probleme bei Fallgesprächen in pädagogischen, rehabilitativen und psychiatrischen Ein­richtungen. In: Psychol., Erz., Unterr. 32. Jg., S. 47-52. München: Ernst Reinhardt.

MINUCHIN, S. (1977/1985): Familie und Familientherapie. Theorie und Praxis struktureller Familien­therapie. Freiburg: Lambertus.

POURROY, G. A. (1986): Das Prinzip Intrige. Über die gesellschaftliche Funktion eines Übels. Zürich: Edition Interfrom.

SELVINI-PALAZZOLI, M. u. a. (1978): Der entzauberte Magier. Zur paradoxen Situation des Schul­psychologen. Stuttgart: Klett-Colta.

SELVINI-PALAZZOLI, M. u. a. (1984): Hinter den Kulissen der Organisation. Stuttgart: Klett-Cotta. SHEFLEN, A. E. (1976): Körpersprache und soziale Ordnung. Stuttgart: Klett.